Offenkundig kann Franz Kafka hier nicht erschöpfend porträtiert werden. Daher möchte ich einige anekdotische Schlaglichter auf sein Leben werfen, die jedem ermöglichen, sich ein eigenes Bild von ihm zu machen.
Für eine umfassendere Betrachtung seines Lebens sei auf Reiner Stachs dreibändige Kafka-Biografie und Daniel Kehlmanns und Daniel Schalkos großartige sechsteilige TV-Serie „KAFKA“ verwiesen.
Kafka der Schüler
Ferdinand Deml, einer von Kafkas Deutschlehrern am Prager Gymnasium, hat die Ziele und didaktischen Verfahren von Kafkas Deutschunterricht dokumentiert und geschildert. Hier einige Auszüge:
Jedes Schuljahr musste Kafka (wie seine Mitschülerinnen und Mitschüler auch) zehn Gedichte auswendig lernen.
Für die 10-14-Jährigen wurde lautes Vorlesen eingeübt; übermittelt sind Kafkas schulische Lesungen von Texten Ovids oder Homers.
Die Pflichtlektüre für die 8. Klasse waren Goethes ‚Hermann und Dorothea‘, Schillers ‚Braut von Messina‘ und ‚Wilhelm Tell‘, Kleists ‚Prinz Friedrich von Homburg‘ und Grillparzers ‚König Ottokars Glück‘.
Referate mussten ohne angefertigte Notizen frei gehalten werden: der 17-Jährige Kafka referierte u.a. zum ‚frühmittelalterlichen Heliand im Vergleich zu Klopstocks Messias‘ und zum ‚fünften Akt von Goethes Tasso‘.
Kafka der Freund
Kafka Freunde berichten übereinstimmend, dass Franz humorvoll, gesellig und charmant war. Hier einige Beispiele:
Felix Weltsch charakterisiert ihn als „schlank, hochgewachsen, zart, die Haltung vornehm, die Bewegungen ruhig; der Blick seiner dunklen Augen fest und doch warm, das Lächeln bezaubernd; sein Mienenspiel fesselnd. Zu allen Menschen war er freundlich und aufmerksam, den Freunden gegenüber treu und zuverlässig.“1
Max Brod gerät ins Schwärmen, wenn er berichtet: „Es wurde einem wohl in seiner Nähe. Die Fülle seiner Gedanken, die er meist in heiterem Ton vorbrachte, machte ihn, um nur den niedersten Grad anzudeuten, zumindest zu einem der unterhaltendsten Menschen, denen ich je begegnet bin […] Und in vertrautem Gespräch löste sich ihm manchmal die Zunge auf ganz erstaunliche Art, er konnte begeistert und hingerissen sein, des Scherzens und Lachens war dann kein Ende; ja er lachte gern und herzhaft und wusste auch seine Freunde zum Lachen zu bringen. Er war ein wundervoll helfender Freund.“2
Nelly Engel, Schwester von Kafkas späterem Häbräischlehrer Friedrich Thieberger, lernte Kafka bei einem Vortrag von Felix Weltsch im Kaffeehaus kennen und traf sich fortan gelegentlich zu Spaziergängen mit Kafka. Als die beiden einmal von Nellys vierzehnjähriger Schwester Trude begleitet wurden, entspann sich folgende Geschichte: „Wir gingen über die Karlsbrücke auf den Hradschin. Im Laufe der Gespräche muss es zu Auseinandersetzungen zwischen mir und meiner Schwester gekommen sein. […] Gleich am nächsten Morgen brachte mir die Post einen mit Kafkas feiner Handschrift dicht beschriebenen vierseitigen langen Brief, in welchem er unsere Gespräche vom Vortrag rekapitulierte […] und eine harmonische Lösung unserer Gegensätzlichkeiten anriet. […] Ich weiß, dass ich einen so wunderbaren Brief nie mehr in meinem Leben bekommen werde. Ich war damals 18 Jahre alt […].“3
Kafka der Liebhaber
Kafka und seine letzte Partnerin Dora Diamant lebten ab September 1923 gemeinsam in Berlin. In ihren Erinnerungen beschreibt Dora ihren Alltag und die Zukunftspläne, die beide trotz der schweren Krankheit Kafkas hatten: „Wir schmiedeten viele Pläne; so dachten wir einmal daran, ein kleines Lokal aufzumachen, worin er selbst Kellner sein wollte. […] Er machte sehr gern Besorgungen, denn er liebte die einfachen Leute. Mit seinem Einholekorb oder der Milchkanne in der Hand war er in unserer Gegend eine vertraute Erscheinung.“4
Die gewünschte Heirat zwischen Franz und Dora scheiterte am Veto von Doras Vater, für den Kafka kein ausreichend gläubiger Jude war. Obwohl es zu keiner Hochzeit kam, widersetzte sich Dora quasi dem Verbot des Vaters und hielt Kafka über dessen Tod hinaus die Treue. Sie signiert eine Widmung des Landarzt-Bandes, den sie im Jahr 1928 einer Freundin schenkt, mit dem größtmöglichen Liebesbekenntnis: dem Doppelnamen ‚Dora Dymant-Kafka‘.5

Nicht weniger rührend ist der Nachruf Milena Jesenskás auf Kafka, der von 1919 bis 1921 ihr Liebhaber war. Sie war Journalistin, Übersetzerin von Kafkas Texten ins Tschechische und galt als für die Zeit außergewöhnliche emanzipierte und mondäne Frau. Zur Zeit der Beziehung mit Kafka war sie mit Ernst Polak verheiratet.
„Er war scheu, ängstlich, sanft und gut, aber die Bücher, die er schrieb, waren grausam und schmerzhaft. Er sah die Welt voll von unsichtbaren Dämonen, die den schutzlosen Menschen bekämpfen und vernichten. Er war zu klarsichtig, zu weise, um leben zu können, und zu schwach, um zu kämpfen: aber das war die Schwachheit der edlen, schönen Menschen, die zum Kampf gegen die Angst, gegen Missverständnisse, Lieblosigkeit und geistig Unwahres nicht fähig sind, die von vornherein um ihre Ohnmacht wissen, sich unterwerfen und so den Sieger beschämen. Er verfügte über eine Menschenkenntnis, wie sie nur den einsam Lebenden gegeben ist, deren hochgradig empfindliche Nerven schon an einem bloßen Mienenspiel den ganzen Menschen hellseherisch erfassen. Seine Kenntnis der Welt war außergewöhnlich und tief. Er selbst war eine außergewöhnliche und tiefe Welt.“6
- Felix Weltsch: Kafka als Freund. In: ‚Als Kafka mir entgegenkam…‘. Erinnerungen an Franz Kafka. Hg. v. Hans-Gert Koch. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach. S. 73. ↩︎
- Max Brod: Franz Kafka. Eine Biographie. Frankfurt: Fischer Bücherei 1962. S. 42. ↩︎
- Nelly Engel: Franz Kafka als ‚boyfriend‘. In: ‚Als Kafka mir entgegenkam…‘. Erinnerungen an Franz Kafka. Hg. v. Hans-Gert Koch. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach. S. 113. ↩︎
- Dora Diamant: Mein Leben mit Franz Kafka. In: Erinnerungen an Franz Kafka. Hg. v. Hans-Gert Koch. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach. S. 180. ↩︎
- Die Abbildung stammt aus: Stach, R.: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis. Frankfurt: S. Fischer 208. S. 608 und 609. ↩︎
- Milenas Nachruf auf Franz Kafka. In: Kafka, F.: Briefe an Milena. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1998. S.379f. ↩︎