Kafka in der Schule


„Was die frühen Äußerungen zu den Dichtungen Franz Kafkas allen späteren Kommentaren weit voraus haben, ist denn auch […] ihre Unbefangenheit gegenüber dem Text. […] Spontaneität gegenüber einem dichterischen Text ist das Privileg des frühen Lesers.“

– Jürgen Born

Diese Einsicht Jürgen Borns möge für den Umgang mit Kafkas Texten in der Schule handlungsleitend sein: eine Lesart zu ermöglichen, die sich unvoreingenommen vom Ballast existierender Mythen befreit, sodass die Leseerlebnisse der Schülerinnen und Schüler nicht durch gängige Narrative bevormundet werden und sich nicht in der Widerschau dessen erfüllen, was sie erwarten zu finden.

Die Schülerinnen und Schüler sollen Kafkas Texte selbst nach den Antworten auf ihre Fragen befragen und den Texten so erlauben, dass sie sie nicht mehr loslassen. So wird die Lektüre von Kafkas Texten und auch der Zeichnungen die Potenziale subjektiver Involviertheit freisetzen und in Kombination mit genauer Textwahrnehmung den Erwerb literarischer Kompetenzen fördern.

Identifikation oder Differenzerfahrung?

Kafkas Texte und Zeichnungen bürgen ein hohes Identifikationspotenzial für jugendliche Leserinnen und Leser, die sich von der Gesellschaft, in ihrer Familie oder in der Schule entfremdet fühlen, die das Gefühl haben, in einer Welt zu leben, die sich nicht nach den eigenen Bedürfnissen richtet. Schülerinnen und Schüler werden sich in Kafkas Protagonisten wiedererkennen können, wenn sie sich selbst Hierarchien und Autoritätsstrukturen ausgeliefert sehen, die sie als ungerecht oder unverständlich empfinden. Sie werden in den Zeichnungen Bezüge zur eigenen Lebensrealität herstellen, wenn sie Zukunftsängste plagen und befürchten, den eigenen Platz in der Welt nicht zu finden.

Ganz offenbar faszinieren Kafkas Texte und Zeichnungen junge Lesende nicht nur, sondern diese berühren sie: Gefühle wie Isolation, Einsamkeit und Fremdheit gegenüber den Mitmenschen, gegenüber der Welt und auch gegenüber sich selbst, Erfahrungen von Ohnmacht und Orientierungslosigkeit, der unerfüllte Wunsch nach Zugehörigkeit oder die Angst vor Veränderung, Zweifel an der eigenen Identität und der sozialen Zugehörigkeit, Erfahrungen von Scheitern und Vergeblichkeit, Bemühungen, die ins Leere führen, sind vielen jungen Menschen ebenso wie Erfahrungen mit psychischen Krankheiten schmerzhaft wohlbekannt. Der Zukunftsforscher Jamais Cascio entwickelt im Jahr 2020 das BANI-Modell, um die Komplexität der heutigen Welt zu beschreiben. Das Akronym BANI steht für brittle, anxious, nonlinear, incomprehensible; das Modell versteht unsere Gegenwart demnach als brüchig, ängstlich, nicht linear und sogar unbegreiflich. Bei diesen Zuschreibungen wird ersichtlich, warum Kafkas Texte und Zeichnungen in der heutigen Zeit vermehrt Identifikationspotenziale bieten: Durch Krieg in Europa, die Klimakrise, Pandemieerfahrungen, Digitalisierung und Social Media, Fortschreiten künstlicher Intelligenz, Zunahme von Fake-News und Cancel-Culture, Vertrauensverluste in Institutionen und Regierungen sowie steigender Bedeutung mentaler Gesundheit bekommt seine Kunst eine ganz neue Aktualität.

Dabei sollen Perspektiven immer mitgedacht werden, die für Schülerinnen und Schülern gerade deshalb einen bereichernden Umgang mit Kafkas Kunst aufzeigen. Nach der Lektüre von Kafkas Texten können junge Menschen Erleichterung empfinden, wie stellvertretend die deutsch-japanische Schriftstellerin und Kafka-Übersetzerin Yoko Tawada aus eigener Erfahrung berichtet: „Ich muss 15 oder 16 Jahre alt gewesen sein und war wie viele Jugendliche verzweifelt. Ich hatte u.a. das Gefühl, ich schaffe es nicht, ein Mensch zu werden. Als Mensch muss man einen Beruf haben, jeden Tag zur Arbeit gehen, man muss eine normale Liebesbeziehung haben und heiraten und eine Familie gründen. All das kam mir so unrealistisch vor. Und als ich dann Kafka gelesen habe, kam da eine Erleichterung: So kann man auch leben. Das war eine Rettung für mich. Hier ist eine Welt, in der ich leben kann.“1 Kafka erfüllt demnach die Funktion des Schriftstellers für schwierige Zeiten.

Eine zweite bereichernde Perspektive in der Lektüre von Kafkas Kunst liegt darin, gerade weil äußere Wege versperrt scheinen, den gegensätzlichen Weg Richtung Innenschau anzutreten. Selbstreflexion, Fantasie, Individualität, geistige Freiheit – eine innere Reflexion, also all das, was nicht von äußeren Zwängen bestimmt wird, kann in der Auseinandersetzung mit eigenen Ängsten und Grenzen eine Art Befreiung bedeuten. Ähnlich formuliert es die israelische Autorin Zeruya Shalev: „Vielleicht war es Kafka, der mich gerettet hat. Ausgerechnet er, der am Ende aller Wege erkannte, dass es keinen Ausweg gibt. Er zeigte mir, dass sich, wenn alle Wege versperrt sind, sich der Weg in die innere Realität auftut.“2 Ähnliches empfiehlt auch der Zukunftsforscher Cascio, der bei seinem BANI-Modell Lösungsperspektiven mitdenkt: Bei Brüchigkeit rät er zu Belastbarkeit und Lockerheit. Angst könne man mit Achtsamkeit und Einfühlungsvermögen begegnen. Nichtlineares verlange nach Flexibilität und Unverständliches solle mit Transparenz und Intuition greifbar werden.


Darüber hinaus gibt es natürlich Schülerinnen und Schüler, die Kafkas Texte und Zeichnungen noch immer als Differenzerfahrung wahrnehmen und denen keine Identifikation mit den Figuren möglich ist. Doch auch sie werden von Kafka in den Bann gezogen. Es ist jene kaum auszuhaltende Rätselhaftigkeit der Handlungen insbesondere seiner erzählenden Texte, die sich jedem Spontanverstehen versagt. Es sind die Wirklichkeiten dieser Texte, die unserer Wirklichkeit zwar ähneln, dieser aber nicht entsprechen: Menschen verwandeln sich in unserer Realität nicht über Nacht in Ungeziefer und Menschen werden auch nicht aus dem Bett heraus ohne Angabe von Gründen verhaftet. Worin besteht die geheime Botschaft, die der Kaiser dem Untertan übermittelt wissen möchte, die aber nie ankommt? Und warum erteilt der Schutzmann dem Suchenden diese fundamentale Abfuhr und was eigentlich soll jener aufgeben? Kafka konfrontiert uns gattungs- und kunstübergreifend mit Welten, die unsere Neugier packen, unseren Trieb zu enträtseln wecken. Und der Anreiz Rätsel zu lösen, bannt uns. Die literarischen Detektive in unseren Schülerinnen und Schülern können hier erwachen, was eine fantastische Grundlage für einen diskursiven und eigene künstlerische Produktivität freisetzenden Literaturunterricht bietet.

Literarischer Kompetenzerwerb

Dies ist zum einen der Umgang mit Polyvalenz, mit der Unabschließbarkeit von Deutungsprozessen. Den Umgang mit literarischen Texten im Allgemeinen und mit Kafkas Texten im Besonderen gerade nicht so zu verstehen, einer vermeintlichen (höheren) Autorenintention auf die Spur kommen zu müssen, sondern im rezeptionsästhetischen Sinn die Schülerleser zu Co-Autorinnen und -Autoren des Textes werden zu lassen, das individuelle Füllen von Leerstellen oder persönlich eingefärbte Deutungen nicht nur zuzulassen, sondern geradezu herauszufordern, ist Erwerb literarischer Kompetenz. Ferner trägt die Auseinandersetzung mit Kafkas Kunst zur Identitätsbildung bei. Beim Lesen und Deuten des Textes sich selbst zu verstehen, so wie es Yoko Tawada für sich selbst schildert, ist Kompetenzerwerb. Gleiches gilt für die Ausbildung moralischer Urteilsfähigkeit. Kafkas Kunstwerke bieten etliche Anknüpfungspunkte für Wertungen: wie beurteile ich beispielsweise die Antwort und das Verhalten des Schutzmannes in Gibs auf! – abschätzig, verwerflich, nachvollziehbar oder sogar als echte Hilfe? Ist der mit dem Kopf auf dem Schreibtisch liegende Mann in Kafkas berühmter Zeichnung erschöpft und müde oder vielleicht träge und faul? Was könnte dieser gezeichneten Situation vorangegangen sein? Wird den Schülerinnen und Schülern erfahrbar, dass das Aushandeln von Textverstehen Freude bereitet, wird ein Genusserleben im Umgang mit Literatur und Kunst in Gang gesetzt.

Die Analyse potenziell literarischen Kompetenzerwerbs zeigt, dass Kompetenzorientierung nicht zwangsläufig mit einer Messbarkeit der Lernerfolge einhergeht. Sicher könnte man anhand der Kurzprosa Kafkas die Gattung der Parabel einführen. Sicher könnte man anhand seines Gedichtes In der abendlichen Sonne Merkmale expressionistischer Lyrik herausarbeiten. Beschränkt man sich aber auf literarische Kompetenzen, die nur an Output-Orientierung und reproduzierbarer Messbarkeit interessiert sind, werden der literarische Text und das Kunstwerk „zum Trainingsgerät degradiert“3. Ergiebiger hingegen für viele Kafkatexte dürfte sein, Ausschau nach Textproceduren zu halten, die Kafkas Wirklichkeitsbegriff konstituieren, die den Einbruch einer uns unbekannten in die vermeintlich alltägliche Welt markieren. Dazu gehörte dann auch, die klare, reine, fast puristische Sprache von Kafkas Texten zwar als Überbringer, nicht aber als Auslöser unserer Verwirrung zu erkennen, sondern das sprachlich Ausgesparte, die Nicht-Information, die Leerstellen der Texte.

  1. aus dem SWR Kultur Forum-Podcast „Leben im Labyrinth – Wie wurde Franz Kafka zum Weltliteraten?“ ↩︎
  2. Shalev, Z.: Vielleicht war es Kafka, der mich gerettet hat. In: Der Spiegel 23 (2024). S. 110. ↩︎
  3. Winkler, I.: Wozu Literaturdidaktik. Perspektiven auf eine Disziplin zwischen den Stühlen. Oldenburg: Bis 2012. S. 22. ↩︎